Erkrankte Arbeitnehmer haben gegenüber dem Arbeitgeber für die Dauer von sechs Wochen einen Anspruch auf Fortzahlung ihrer Vergütung (Entgeltfortzahlung, § 3 EFZG). Bei längerer Erkrankung zahlt die Krankenkasse im Anschluss in der Regel ein sogenanntes Krankengeld. Tritt aber eine neue Erkrankung (Folgeerkrankung) auf, so entsteht der Anspruch auf Entgeltfortzahlung grundsätzlich erneut. Dies birgt Missbrauchspotential und kann zur Belastung für Arbeitgeber werden. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich in seiner Entscheidung vom 11. Dezember 2019, die bislang nur als Pressemitteilung vorliegt, mit der Frage befasst, ab wann der Arbeitgeber bei einer solchen Folgeerkrankung die Entgeltfortzahlung verweigern kann. Medienberichten zufolge können Arbeitgeber danach die Entgeltfortzahlung verweigern, wenn der Arbeitnehmer nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums von sechs Wochen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) zu einer neuen Krankheit vorlegt („Erstbescheinigung"). Diese Aussage ist nicht nur mit Vorsicht zu genießen, sondern in ihrer Pauschalität auch schlicht falsch.

I. Worum ging es?

Die Klägerin war wegen einer psychischen Krankheit seit dem 7. Februar 2017 arbeitsunfähig. Der Arbeitgeber leistete für die Dauer von sechs Wochen Entgeltfortzahlung. Im Anschluss bezog die Klägerin Krankengeld, da Sie auf Grundlage mehrerer Folgebescheinigungen der Hausärztin weiter wegen des psychischen Leidens bis zum 18. Mai 2017 krankgeschrieben war. Am 19. Mai 2017, also ein Tag nach Ende der letzten AU-Bescheinigung, unterzog sich die Klägerin einer geplanten Operation wegen eines gynäkologischen Leidens. Ihre Frauenärztin bescheinigte am 18. Mai 2019 mittels einer „Erstbescheinigung" eine Arbeitsunfähigkeit ab dem 19. Mai 2017 für fünf Wochen und mittels Folgebescheinigung für weitere zwei Wochen bis zum 30. Juni 2017. In diesem Zeitraum erhielt die Klägerin keine Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber. Im Juli 2017 erbrachte die Klägerin wegen Urlaub und Überstundenabgeltung keine Arbeitsleistung und begann im Anschluss eine Psychotherapie.

Mit der Klage begehrte die Klägerin die Zahlung des monatlichen Bruttoentgelts ab dem 19. Mai 2017 für sechs Wochen. Sie war der Auffassung, es handle sich um eine neue Erkrankung wegen des gynäkologischen Eingriffs. Ihre psychische Erkrankung habe am 18. Mai 2017 geendet. 

II. Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachen als Vorinstanz (Urteil vom 26. September 2018 – 7 Sa 336/18)

Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachen entsteht ein erneuter Anspruch auf Entgeltfortzahlung erst dann, wenn die erste Erkrankung im Moment der neuen Folgeerkrankung vollständig ausgeheilt ist. Andernfalls liege ein sogenannter „einheitlicher Verhinderungsfall" vor. Der Arbeitnehmer sei insofern darlegungs- und beweispflichtig. Er müsse das Vorliegen einer Erkrankung ebenso wie deren Beginn und deren Ende beweisen. Dazu könne er sich zunächst auf die AU-Bescheinigung des Arztes stützen. Bringe der Arbeitgeber aber „gewichtige Indizien" dafür vor, dass die vorangegangene Erkrankung nicht vor Eintritt einer neuen Erkrankung geendet habe, genüge die reine Vorlage der AU-Bescheinigung nicht. Vielmehr bedürfe es hierfür eines weitergehenden Beweises. Dieser Beweislast könne der Arbeitnehmer etwa durch Vernehmung des behandelnden Arztes als Zeuge genügen.

In der Folge ging das LAG für den vorliegenden Sachverhalt vom Vorliegen solcher „gewichtigen Indizien" für das Fortbestehen des psychischen Leidens der Klägerin als Ersterkrankung aus. So habe die Klägerin sich nach der gynäkologischen Operation wieder in psychologische Behandlung begeben, auch im Anschluss Antidepressiva eingenommen und sei bereits zuvor seit mehreren Monaten wegen psychischer Erkrankungen arbeitsunfähig gewesen. Auch die behandelnden Ärzte, die als Zeugen aussagten, konnten ein Ende der psychischen Krankheit im Moment der Folgeerkrankung nicht bestätigen. Gegen diese Entscheidung wandte sich die Klägerin mit der Revision zum BAG.

III. Urteil des BAG laut Pressemitteilung Nr. 45/19 (11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18)

Das BAG ist – soweit aus der Pressemitteilung ersichtlich – im Grundsatz der Auffassung des LAG Niedersachsen gefolgt. Danach hat der erkrankte Arbeitnehmer darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, dass die vorangegangene Erkrankung im Moment des Eintritts der neuen Arbeitsunfähigkeit geendet hat. Dies gelte – so das BAG – insbesondere dann, wenn im „engen zeitlichen Zusammenhang" mit der Ersterkrankung eine im Wege der Erstbescheinigung attestierte weitere Erkrankung hinzukomme. Im zugrundeliegenden Fall hätte die Klägerin mithin nachweisen müssen, dass ihr psychisches Leiden in dem Moment ausgeheilt gewesen war, in dem sie wegen des gynäkologischen Leidens krankgeschrieben wurde. Dies gelang ihr, nach den bindenden Feststellungen des LAG Niedersachsen, jedoch nicht.

IV. Folgen für die Praxis – Beweiswert der AU-Bescheinigung bleibt erhalten, aber…

Soweit aus der Pressemitteilung ersichtlich, bestätigt das BAG mit der Entscheidung vom 11. Dezember 2019 seine bisherige Rechtsprechung aus dem Jahr 2016 (5 AZR 318/15), wonach ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch nur entsteht, wenn die erste Arbeitsunfähigkeit bereits beendet war, bevor die neue Erkrankung zu einer weiteren Arbeitsunfähigkeit führt. Die Beweislast hierfür trägt der Arbeitnehmer.

Die AU-Bescheinigung in ihrer bisherigen Form trifft indes keine Aussage über die Beendigung der Krankheit. Vielmehr ist ein Feld „voraussichtlich arbeitsunfähig erkrankt bis" vorgesehen. Dies macht deutlich, dass der behandelnde Arzt bei Ausstellung der AU-Bescheinigung kein Ende der Krankheit attestiert und dies naturgemäß auch gar nicht kann. Wenn sodann eine neue AU-Bescheinigung ausgestellt wird, sagt auch diese typischerweise nur etwas über die „neue" Krankheit, nichts indes über die „alte" und möglicherweise noch fortbestehende Erkrankung aus. Der Patient wird regelmäßig nicht vorab wieder „gesundgeschrieben". Bestreitet der Arbeitgeber, dass der Arbeitnehmer arbeitsfähig war, bevor die neue Erkrankung zu einer weiteren Arbeitsunfähigkeit geführt, verbleibt schlussendlich nur die Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht als Möglichkeit des Gegenbeweises.

In welchem Umfang das BAG – wie das LAG Niedersachsen – vom Arbeitgeber den Vortrag „gewichtiger Indizien" für den Fortbestand der ersten Erkrankung verlangt, bleibt abzuwarten. Hier werden die Entscheidungsgründe (hoffentlich) mehr Aufschluss geben. Ob sich in Folge der Entscheidung die Handhabung der behandelnden Ärzte ändert oder es zu einer Überarbeitung der AU-Bescheinigung – eventuell im Zuge der beschlossenen Digitalisierung – kommen mag, bleibt ebenso abzuwarten. Wir werden dazu in unserem Blog berichten.

Aus Arbeitgebersicht sollten Fälle einer Folgeerkrankung jedenfalls kritisch geprüft werden. Insbesondere wenn vermutet wird, dass die Ersterkrankung nicht ausgeheilt war, sollte eine Verweigerung der Entgeltfortzahlung in Betracht gezogen oder jedenfalls der Arbeitnehmer aufgefordert werden, einen Nachweis über die Beendigung der Ersterkrankung zu erbringen. Bescheinigt indes der behandelnde Arzt ein Ende der Ersterkrankung, bleibt für eine Verweigerung der Entgeltfortzahlung – anders als in einigen Medienberichten suggeriert wurde – wenig Raum. Im Ergebnis setzt das BAG damit seine bisherige Rechtsprechung fort, ohne sie zu revolutionieren.