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Aufatmen für Unternehmen? BAG trifft Entscheidung zu fehlender Arbeitszeiterfassung

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Seit ziemlich genau drei Jahren rätseln Unternehmen und Juristen in Deutschland, ob eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht, die über die gesetzlichen Pflichten, insbesondere nach § 16 Abs. 2 ArbZG, hinausgeht. Am 4. Mai 2022 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) nun klargestellt, dass eine fehlende Arbeitszeiterfassung jedenfalls keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess habe. Unternehmen sollten sich gleichwohl nicht zurücklehnen.


I.

EuGH-Entscheidung primär Handlungsanweisung an Mitgliedstaaten

Am 14. Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner viel beachteten CCOO-Entscheidung (C-55/18) festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von jedem Beschäftigten geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Primär nimmt der EuGH damit die Mitgliedstaaten in die Pflicht, denen die konkrete Ausgestaltung überlassen wird. Eine entsprechende Umsetzung ist bislang in Deutschland nicht erfolgt und aktuell – trotz allgemeiner Hinweise im aktuellen Koalitionsvertrag – auch nicht absehbar. In Literatur und Rechtsprechung wird jedoch kontrovers diskutiert, ob sich aus der EuGH-Entscheidung nicht eine unmittelbare Handlungspflicht für Unternehmen ergeben könnte. Selbst wenn man eine solche Pflicht annehmen würde, stellt sich sodann die Frage, welchen Anforderungen ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung genügen müsste.

II.

ArbG Emden sieht unmittelbare Auswirkungen – LAG Niedersachsen nicht

Dass die Diskussionen rund um die Erfassung der Arbeitszeit nicht nur „juristisches Hochreck“ sind, sondern ganz konkrete wirtschaftliche Folgen haben können, verdeutlichten zwei Entscheidungen des Arbeitsgerichts (ArbG) Emden aus dem Jahr 2020. Das ArbG hat dort zur Geltendmachung von Überstunden angenommen, dass sich eine fehlende Arbeitszeiterfassung auch ohne die Umsetzung der CCOO-Entscheidung durch den deutschen Gesetzgeber negativ für Unternehmen auswirken könne.
Insbesondere werde die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess zugunsten der Beschäftigten erleichtert. Arbeitgeber könnten ihrer sekundären Beweislast in einem solchen Prozess nur genügen, wenn sie ein entsprechendes System zur Arbeitszeiterfassung eingeführt hätten. In beiden Fällen wurde den Klagen über rund EUR 156 bzw. über EUR 20.000 stattgegeben.
Während die erste Entscheidung rechtskräftig geworden und in der Folge vielfach als „bloße“ Einzelfallentscheidung bezeichnet worden war, wurde gegen die zweite Entscheidung Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen eingelegt. Das LAG folgte der Begründung des ArbG nicht, hob die Entscheidung in der Folge auf und wies die Vergütungsklage ab. Zur Begründung verwies es auf die fehlende Kompetenz der Europäischen Union hinsichtlich Fragen der Arbeitsvergütung (vgl. Art. 153 Abs. 5 AEUV). Folglich könne sich auch das Urteil des EuGH nur auf die Fragen des Arbeitsschutzes und der Begrenzung der Höchstarbeitszeiten im Sinne des Gesundheitsschutzes beziehen. Unmittelbare Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess – in dem es alleine um die Vergütung dieser Zeiträume gehe – habe die EuGH-Rechtsprechung indes nicht.

III.

BAG bestätigt die Sichtweise des LAG Niedersachsen

Nunmehr hat der 5. Senat des BAG laut Pressemitteilung die Entscheidung des LAG Niedersachsen bestätigt. So habe das Berufungsgericht richtig erkannt, dass vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer auch nicht vor dem Hintergrund der CCOO-Entscheidung des EuGH abzurücken sei.

Diese sei schließlich zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen. Nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH beschränkten sich diese Bestimmungen darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie fänden indes grundsätzlich keine Anwendung auf Fragen der Vergütung. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess. Hiervon ausgehend sei die Entscheidung des LAG Niedersachsen zutreffend.

IV.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Auf Vergütungsprozesse im Allgemeinen und Überstundenvergütungsprozesse im Besonderen hat das Fehlen einer Arbeitszeiterfassung damit zunächst keine Auswirkungen. Für Unternehmen kann gleichwohl Handlungsbedarf bestehen:
Zunächst besteht auch nach den aktuellen gesetzlichen Regelungen eine Pflicht, die über die werktäglich von 8 Stunden hinausgehende Arbeitszeit zu erfassen (§ 16 Abs. 2 ArbZG). Eine bestimmte Form der Erfassung sieht das Gesetz nicht vor. Das ArbZG verhält sich auch nicht zur Vergütung der Arbeitszeit. Allerdings können Verstöße gegen das Gesetz eine Ordnungswidrigkeit darstellen, die mit einer Geldbuße von bis zu EUR 30.000 EUR pro Verstoß geahndet werden kann (§ 22 Abs. 1 Nr. 9 ArbZG).
Ob die CCOO-Entscheidung darüber hinaus in arbeitsschutzrechtlicher Hinsicht unmittelbare Handlungspflichten für den Arbeitgeber auslöst, bleibt – zumindest nach den Ausführungen aus der Pressemitteilung des BAG – offen. Auch wenn die herrschende Auffassung in der juristischen Literatur dies nach wie vor verneint, gibt es durchaus gewichtige Gründe, die dafür sprechen. Unternehmen sind daher gut beraten, sich mit der Einführung einer Arbeitszeiterfassung auseinanderzusetzen. Schließlich ist auch nach dem Koalitionsvertrag der „Ampel“-Koalition zu erwarten, dass der Gesetzgeber tätig werden wird. Dass eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kommt, gilt insoweit als sicher, lediglich im Hinblick auf den Umfang ist nach wie vor noch alles offen.
Viele offene Fragen gibt es auch im Rahmen der Mitbestimmung. So hat der Betriebsrat zwingende Mitbestimmungsrechte im Rahmen des Gesundheitsschutzes und der Arbeitszeit. In diesem Zusammenhang haben zuletzt einige Gerichte den Standpunkt vertreten, dass sich aus § 87 I Nr. 6, 7 BetrVG Initiativrechte des Betriebsrates zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung ergeben könnten (LAG München vom 10. August 2021 – 3 TaBV 31/21; LAG Hamm vom 27. Juli 2021 – 7 TaBV 79/20). Sofern das BAG diese Rechtsprechung bestätigt, hätte dies weitreichende Konsequenzen.
Ungeachtet der Frage der Arbeitszeiterfassung sollte schließlich bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen ein besonderes Augenmerk auf so genannte Pauschalabgeltungsklauseln für Überstunden gelegt werden. Solche Regelungen sind zwar grundsätzlich zulässig, müssen aber klar und verständlich sein. Sie müssen insbesondere erkennen lassen, in welchem Umfang Überstunden mit dem monatlichen Gehalt abgegolten sind (vgl. aktuell etwa LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 14. September 2021 – 2 Sa 26/21 zur pauschalen Abgeltung von 10 Überstunden im Monat).
Eines ist damit klar: Überstunden und Fragen der Arbeitszeit bleiben ein wichtiges Thema für Unternehmen. Neben rechtlichen Aspekten kann die transparente Gestaltung in diesem Bereich auch ein Wettbewerbsvorteil für Unternehmen sein.
Mehr zur Bedeutung der Corporate Social Responsibility im Arbeitsrecht finden Sie hier.

Autoren dieses Beitrags

Thomas
Niklas

Dr. Thomas
Köllmann

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